Die große Welt der Sprachen

Die Weltbevölkerung betrug Anfang 2014 etwa 7,2 Milliarden Menschen, die zwischen 6.000 und 7.000 Sprachen sprechen, genauere Zahlen wagen auch Experten nicht zu nennen.  Diese große Anzahl ist Ausdruck einer kulturellen Vielfalt und das Ergebnis einer Jahrtausende alten Entwicklung. Die weitaus größte Anzahl dieser Sprachen wird allerdings nur von kleinen Minderheiten gesprochen. Im Zuge der Globalisierung und der kulturellen Angleichung sind viele dieser Sprachen vom Aussterben bedroht. Der Vormarsch der Sprachen, die in den Ländern gesprochen werden, die in der modernen Industriegesellschaft den Ton angeben, ist nicht aufzuhalten.

 

Die Top Ten der international am weitesten verbreiteten Sprachen sind Mandarin-Chinesisch (726 Millionen), Englisch (427 Millionen), Spanisch (266 Millionen), Hindi (182 Millionen), Arabisch, Portugiesisch, Bengali, Russisch (jeweils über 150 Millionen), Japanisch (124 Millionen) und Deutsch (121 Millionen). Mit diesen zehn Sprachen erreicht man 35% der Menschheit. Sprachen, die von weniger als 100, aber mehr als 50 Millionen gesprochen werden, sind Französisch, Punjabi, Javanisch, Bihari, Italienisch, Koreanisch, Telugu, Tamil, Marathi und Vietnamesisch.

 

Die Europäer haben häufig den Eindruck, dass ihr Kontinent – vor allem im Vergleich zu Nordamerika oder Australien – eine außergewöhnlich hohe Zahl an Sprachen aufweist. Aber nur 3% aller Sprachen weltweit, das sind rund 225 Sprachen, sind indigene europäische Sprachen. Die meisten Sprachen der Welt werden in einem „Gürtel“ rund um den Globus gesprochen. Wenn man nämlich die Verteilung der Sprachen näher betrachtet, sieht man, dass die Vielfalt der Sprachen steigt, je weiter man sich auf die Regionen am Äquator zubewegt – die meisten Sprachen sind in den tropischen und subtropischen Regenwäldern zu finden. Seit langem rätseln Sprachwissenschaftler, ob es einen logischen Zusammenhang zwischen dem Breitengrad und der Sprachenvielfalt gibt oder ob es einfach Zufall ist, dass in Regionen nahe des Äquators ein babylonisches Sprachengewirr entstand, während man in Nordeuropa oder Südamerika bis heute mit weniger Sprachen auskommt.

 

Doch Sprachen sterben aus, die meisten davon in der Nähe des Äquators: Experten schätzen, dass die Menschheit vor über 10.000 Jahren weltweit noch etwa 20.000 Sprachen kannte. Bis ins Jahr 2200 dürften es noch 100 sein. Ein Grund ist, dass kleine Sprachgemeinschaften aufgrund von Vertreibungen, Völkermord oder Naturkatastrophen aussterben. Zudem geben viele Menschen ihre lokale Sprache auf und übernehmen eine nationale Sprache, um sich landesweit verständigen zu können. Die Muttersprache reichen sie somit nicht an die nächste Generation weiter. 

 

„Jede Sprache ist ein Universum für sich, eine vielschichtige Ansammlung von Klängen und Symbolen“, meint Koichiro Matsuura, Generaldirektor der Unesco. Laut Einschätzung der UNESCO ist die Hälfte aller Sprachen vom Verschwinden bedroht und wird vermutlich bis zum Ende dieses Jahrhunderts in Vergessenheit geraten. Alle zwei Wochen geht eine Sprache verloren und damit auch kulturelle Vielfalt und uraltes Wissen. Gedichte, Legenden, Sprichwörter und Scherze geraten mit dem Verschwinden einer Sprache in Vergessenheit. Jede Sprache bedeutet eine einzigartige Sichtweise, zeigt, wie eine Gesellschaft ihre Probleme löst und sich innerhalb der Welt verständigt. Sie demonstriert die Art und Weise, wie eine Gesellschaft Gedanken formuliert, verleiht Lebensphilosophien Ausdruck und zeigt, wie die Welt betrachtet wird. Sprache bewahrt die Kultur von Völkern, oft auch noch nach ihrem Untergang. Das Verschwinden von Sprache bedeutet also in den meisten Fällen den unwiederbringlichen Verlust von Kultur und Wissen.

 

Sprachen entstehen und verschwinden seit tausenden von Jahren – allerdings war es bis vor 300 Jahren ein langsamer Prozess. Mittlerweile hat das Aussterben von Muttersprachen dramatische Auswirkungen. 3.000 Sprachen sind gefährdet, stark gefährdet oder im Verschwinden begriffen. Viele weitere Sprachen, die zur Zeit noch weit verbreitet sind, zeigen ebenfalls Anzeichen, schon bald in die Kategorie „gefährdet“ zu wechseln.

 

Die am meisten von zunehmender Verarmung sprachlicher Vielfalt betroffenen Länder liegen in Nord- und Südamerika, Südostasien, Ozeanien und Afrika. 572 Sprachen sind weltweit akut bedroht, ein großer Teil davon liegt in den erwähnten Regionen. Sehr anschaulich wird die weltweite Sprachverarmung im „Atlas der bedrohten Sprachen“ gemacht, wo rund 2.473 Sprachen nach Name, Bedrohungsgrad und Region angeführt sind. Darunter finden sich auch 230 Sprachen, die seit 1950 verschwunden sind. 

 

Ein wichtiger Lösungsansatz zum Erhalt der Sprachenvielfalt sind bi- oder multilinguistische Gesellschaften. Immer noch ist es nämlich das aggressive Verhalten stärkerer Kulturen, das die kulturelle Vielfalt gefährdet. Die Vorstellung, die eigene Kultur anderen aufzwingen zu müssen, ist eine der wesentlichen Ursachen für das Verschwinden von Sprache und Brauchtum. In bi- oder multilinguistischen Gesellschaften bleibt Raum, die eigene Identität zu pflegen. Allerdings streben die meisten Gesellschaften nach wie vor monoliniguistische Ziele an.

 

In Österreich gibt es zur Zeit fünf Sprachen, die als zumindest gefährdet bezeichnet werden können: Bairisch, Jiddisch, burgenländisches Kroatisch, Alemannisch (in Vorarlberg) und das von Roma und Sinti gesprochene Romani. 

 

Für den Linguisten und für das Kind, das ohne Weiteres seine Muttersprache lernt, sind alle Sprachen gleich gut. Sie haben alle das, was man von einer Sprache erwarten kann. Und das gilt auch ganz unabhängig davon, ob es sich um Sprachformen handelt, die wir gemeinhin als Sprachen bezeichnen, oder um Dialekte. Sprachliche und kulturelle Vielfalt ist wie die biologische Vielfalt ein wichtiger und schöner Aspekt unseres Lebens. Jede Sprache hat ihre eigene Sicht der Welt und ist das Ergebnis ihrer eigenen Geschichte. Alle Sprachen haben ihre individuelle Bedeutung, und alle sind gleichermaßen als Ausdrucksmöglichkeit für die Menschen, die sie nutzen, Identität und Heimat.

 

 

Quellen: Martin Haspelmath & Matthew S. Dryer & David Gil & Bernard Comrie, eds. The World Atlas of Language Structures. Oxford: Oxford University Press,  (see also WALS Online), ham/derStandard.at

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