Was macht die Identität einer Region aus? Ist es die Landschaft, die Geschichte, die Kultur, die Wirtschaft, sind es die Menschen, die dort leben? Identität ist keine statistische Größe, sie ist nicht berechenbar wie „Wirtschaftseckdaten“ und nicht auflistbar wie historische Jahreszahlen. Zuallererst ist sie etwas Menschliches, resultierend aus dem komplexen Zusammenspiel vieler Faktoren.
Einer dieser Faktoren ist die Region, aus der man stammt und in der die meisten auch ihr Leben lang bleiben. Zu den „höchst markierten“, d.h. regionale Herkunft und auch Zuordenbarkeit, ganz besonders stark prägenden kulturellen Ausdrucksformen eines Menschen gehört die Sprache. Es hängt dann von der Persönlichkeit jedes einzelnen ab, inwieweit er fähig oder willens ist, sich in fremder Umgebung sprachlich anzupassen, doch den meisten hängt ihr Leben lang zumindest „ein leichter Akzent“ an. Je weiter man weggeht, desto weiter wird auch die regionale Identifikation der Herkunftsregion. Jener, der seine Regionalidentität weiter begreift, wird oder will dann eben auch weiter reichende, meist „Umgangssprache“ genannte Ebenen von Sprache verwenden, die dann oft nur mehr wenige Züge kleinerer Regionen an sich haben. Doch wie kommt es dazu?
Gerade der Welthandel, die Förderung der Innovation und der internationalen Forschung und die globalen Unternehmen bewirken durch ihre – aus der Sicht nationalstaatlicher Politiker – zersetzenden Tendenzen aber auch die Aufwertung der anderen Sprachen: Mit dem generellen Abbau von Grenzen, Hürden und Einengungen war auch der politische Druck kaum mehr zu halten, alle Bewohner eines Territoriums auf einen gemeinsamen Sprachkanon zu verpflichten. Die größeren wirtschaftlichen Einheiten (EU, Nafta, Asean etc.) waren per definitionem nicht mehr mit dem Nationalstaat identisch. Der Druck auf die Anderssprachigen ließ nach. Die Identität formt sich seither immer stärker durch andere Faktoren: nicht mehr Deutscher, Tscheche oder Österreicher sein, sondern Tiroler, Elsässer, Sorbe oder Same. Überall ist ein Wiederaufleben der Minderheitensprachen und vor allem auch der Mundarten zu erkennen. Sie sind nicht mehr einfach nur unterhaltsam, sondern werden in immer mehr Bereichen reanimiert, gepflegt und medial verbreitet.
Die Grundlage aller noch irgendwie Regionalidentität beinhaltenden Formen von Sprache sind aber die lokalen Dialekte. Ohne sie bräche das Fundament zusammen, das es z.B. den Salzburgern ermöglicht – natürlich in den verschiedensten Schattierungen – auch „salzburgerisch“ zu reden. Das heisst: Gebrauch und Wertschätzung regionaler Sprache haben in erster Linie in der Region ihren Platz.
Neueste wissenschaftliche Untersuchungen lassen den Schluss zu, dass Kinder, die mit dem Dialekt aufwachsen und sich dann erst die Standardsprache aneignen, eine größere Sprachkompetenz entwickeln. Heinz-Peter Meidinger, der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, nennt folgenden Grund für dieses Phänomen: „Dialektsprecher lernen früh, zwischen verschiedenen Sprachebenen zu unterscheiden. Das trainiert die Auffassungsgabe und das abstrakte Denken.“ Das alles spricht dafür, sich verstärkt dem sprachlichen Mikrokosmos der Region zuzuwenden. Der Salzburger Dialektforscher Dr. Hannes Scheutz hat mit seinem überaus interessanten Vorhaben bereits einen Grundstein gelegt.
„Deutsche Dialekte im Alpenraum“ heißt ein Arge-Alp-Projekt*, das der Salzburger Germanist Ass.-Prof. Dr. Hannes Scheutz 2009 vorgestellt hat. Bei dem Projekt handelt es sich um einen „sprechenden Dialektatlas“, der auf der Homepage der Arge Alp zu finden ist. Auf einen Mausklick ist zu hören, wie ein und derselbe Begriff in unterschiedlichen Dialekten benannt bzw. ausgesprochen wird. Auf einer Karte kann man 27 verschiedene Orte im deutschsprachigen Alpenraum anklicken und bekommt postwendend Hörbeispiele des dort gesprochenen Dialektes.
Klickt man einen anderen Ort an, hört man, wie das gleiche anderswo klingt. Für diesen sprechenden Atlas hat Prof. Scheutz insgesamt 5.500 Tonaufzeichnungen im gesamten deutschsprachigen Alpenraum gesammelt und bearbeitet. Das erfasste Gebiet reicht von Graubünden im Westen über Seekirchen im Osten und Norden bis nach Südtirol bzw. bis ins Trentino im Süden. Insgesamt gibt es zu rund 100 Beispielswörtern bzw. -sätzen 54 verschiedene Aussprachen, da in den 27 ausgewählten Orten je ein Vertreter der älteren als auch der jüngeren Generation „zu Wort kommt“.
Der Dialektatlas ist kein „sprachliches Kuriositätenkabinett“, stellt Scheutz klar. Ihm geht es darum, einer breiteren Öffentlichkeit die Bedeutung der sprachlichen Vielfalt und der kulturellen Wurzeln zugänglich zu machen. Dialekte seien vollwertige Sprachen und keine „schlampigen oder minderwertigen Ausdrucksformen“. Die Hochsprache sei eine Sprache der Distanz, des überregionalen Verkehrs. Der Dialekt sei eine Sprache der Nähe, die sich ständig weiterentwickle und verändere. Bei diesem Projekt geht es auch darum, die regionalen Sprachen und Dialekte stärker im öffentlichen Bewusstsein und in der öffentlichen Diskussion zu positionieren.
*Zur 1972 gegründeten Arge Alp gehören die Kantone Tessin, St. Gallen und Graubünden, die österreichischen Länder Tirol, Salzburg und Vorarlberg, die autonomen Provinzen Bozen-Südtirol und Trient sowie die Region Lombardei in Italien und das deutsche Bayern.