Die Frage nach dem Spracherwerb von Kleinkindern spaltet Entwicklungs-Psychologen und Linguisten schon lange. Ein Experiment sollte weitere Aufklärung bringen.
Wie lernen Kleinkinder sprechen? Wie viel Sprachfähigkeit ist angeboren? Über diese Fragen kriegen sich Entwicklungspsychologen und Linguisten regelrecht in die Haare. Aber ihre Debatten basieren auf einer erstaunlich dünnen Datenlage. Denn man kann das Lernen der ersten Wörter nicht ins Labor verlegen. Deswegen brachte Deb Roy das Labor zum Kind – zu seinem Kind.
Als der junge Computerwissenschaftler vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge und seine Frau, eine Linguistin, vor fünf Jahren ein Baby erwarteten, fassten sie einen Entschluss: Ihr Baby sollte das erste Kind der Welt sein, dessen erste Lebensjahre in Video und Ton festgehalten würden. Einen nicht gerade bescheidenen Namen für das Vorhaben fand Roy auch: „The Human Speechome Project“, stark angelehnt an das „Human Genome Project“. Die erste vollständige Dokumentation der Sprachlernphase eines einzelnen Menschen.
Deb Roy verwandelte sein Haus in ein Sprachlabor: Die Wände wurden durchlöchert,1000 Meter Kabel verlegt, die Räume mit insgesamt elf Videokameras und 14 Mikrofonen ausgestattet. Bewegungsmelder schalteten die Kameras ein, sobald eine Person den Raum betrat. Vier Menschen standen in den folgenden zwei Jahren unter permanenter Beobachtung: die beiden Eltern, ihr Sohn und das Kindermädchen. Sie führten ein Leben wie im Big Brother-Haus. Immerhin gab es an den Kameras eine „Ups“-Taste – die Erwachsenen hatten die Möglichkeit, die letzten paar Minuten zu löschen, wenn sie deren Inhalt der Öffentlichkeit vorenthalten wollten. Aber Deb Roy gibt zu, dass er zu keinem Zeitpunkt vergessen konnte, dass jedes Gespräch mitgeschnitten wurde. „Das vergisst man so, wie man die Anwesenheit der Schwiegermutter in einem anderen Zimmer des Hauses vergisst.“ Also gar nicht. Jedes Wort, das der kleine Junge zwischen dem Alter von neun Monaten und zwei Jahren gesprochen hat, ist nun für die Nachwelt erhalten. 90.000 Stunden Video, 140.000 Stunden Tonaufnahmen. Dazu sämtliche Bewegungen der vier Personen durch die Wohnung. Am Computer zeigt Roy Zeitrafferaufnahmen, auf denen die Bahnen der vier Personen als bunte Streifen zu sehen sind, jede hat ihre eigene Farbe.
Eine Flut an Daten, 200 Gigabyte pro Tag, also etwa der Speicherplatz einer Festplatte in einem handelsüblichen Notebook. Zwar haben die MIT-Forscher Computerprogramme entwickelt, die die Datenerfassung erleichtern. Trotzdem dauert es noch etwa zwei Stunden, ein einstündiges Gespräch niederzuschreiben. Bis heute ist etwa die Hälfte der Aufzeichnungen transkribiert. Aber schon einige Stichproben können Antworten auf Fragen geben, zu denen die Forschung bisher nur Vermutungen hatte. Besonders faszinierend ist es, die „Geburt“ eines Wortes zu analysieren. Roy besitzt eine Tondatei, in der er über mehrere Monate verfolgt, wie das Söhnchen langsam das Wort water („Wasser“) lernt. Zunächst sagt Klein Roy „gaga“, wenn es zum Beispiel ans Baden geht. Langsam verändert sich das Wort, irgendwann meint man schon water zu hören, aber dann plappert das Kind wieder gaga. Auf zwei Minuten verkürzt, wirkt die Aneignung dieses einzigen Begriffs wie ein zähes Ringen mit Vokalen und Konsonanten. Und das passierte im Verlauf der 15 Monate mit 517 Wörtern!
Die Lernfrequenz stieg exponentiell an, bis zu knapp 100 Begriffen allein im 20. Lebensmonat, dann fiel die Kurve steil ab – es kamen zwar noch neue Wörter dazu, aber täglich weniger. Eine mögliche Interpretation: Zu diesem Zeitpunkt beherrschte das Kind genügend Begriffe, um seine Umwelt zu benennen, von da an ging es vor allem darum, daraus sinnvolle Sätze zu formen.
Die riesige Datenbank hat den Vorteil, dass man stets zurückschauen kann. Ist der „Geburtszeitpunkt“ eines Wortes einmal ermittelt, also der Tag, an dem das Kind das Wort zweifelsfrei verwendet, kann man die Wochen und Monate davor untersuchen: Haben Vater und Mutter das Wort in dieser Zeit besonders häufig gebraucht oder besonders stark betont? Ein interessantes Ergebnis, das noch gedeutet werden muss: In der Zeit vor einer Wort-Geburt werden die Sätze der Eltern, die das Wort enthalten, immer kürzer, danach immer länger. Und zwar nicht nur in den Tagen unmittelbar davor, sondern über Monate hinweg. Das zeigt deutlich: Sprechenlernen ist kein Akt des Kindes allein, es ist ein sozialer Prozess mit mehreren Beteiligten. Die Eltern und Erzieher bereiten unbewusst den Boden dafür, dass das Kind neue Wörter aufnehmen kann.
Deb Roy ist in der Linguistik ein argwöhnisch beäugter Quereinsteiger, aber man findet seine Methode interessant. Die Daten seines Speechome Project werden grundsätzlich auch anderen Forschern zur Verfügung stehen. Wer eine interessante Frage stellt, die sich quantitativ beantworten lässt, dem können die Daten auch in zehn Jahren noch Antworten geben. Mit einer Einschränkung: „Die Daten gehören den vier Personen, die auf den
Aufnahmen sind – und jeder der vier kann verlangen, dass sie gelöscht werden“, sagt Roy. „Mein Sohn ist jetzt schon alt genug, um zu wissen, dass diese Aufnahmen von ihm existieren.“ Vielleicht wird es solche Daten bald auch von anderen Kindern geben. Zwar wirdwohl kaum jemals ein anderes Elternpaar denselben Aufwand betreiben, aber Roys Team hat eine Light-Version entwickelt, ein Aufnahmeterminal, das wie eine gebogene Stehlampe aussieht und mit einer Kamera und einem Mikrofon einen einzelnen Raum erfasst. Vielleicht würden ja sogar die Kinder selbst davon profitieren.
Vor einiger Zeit ist Deb Roys Vater gestorben. „Ich habe mich oft gefragt, wie er die Zeit erfahren hat, als ich aufwuchs“, sagt er. „Ich habe keine Ahnung. Ist es nicht toll, dass mein Sohn das später nachvollziehen kann?“
QUELLE: ZEIT Wissen 6/2010